Rechtspflege

Hilfeempfänger für überlangen Prozess entschädigt

Das Jobcenter darf den Betrag nicht auf das Arbeitslosengeld II anrechnen

Die Frau kümmert sich um ihren pflegebedürftigen Mann, beide Partner sind arbeitslos und beziehen Arbeitslosengeld II. Beim Sozialgericht Hildesheim kämpfte das Ehepaar sehr lange um einen höheren Zuschuss für Unterkunft und Heizung — der Prozess zog sich 21 Monate hin.

Für die überlange Verfahrensdauer erhielten die Hilfeempfänger am Ende eine Entschädigung. Doch die Freude über die niedrige vierstellige Summe währte nicht lange. Denn das Jobcenter kürzte das Arbeitslosengeld II um diesen Betrag.

Wieder zog das Ehepaar vor Gericht und hatte nach erneut langem Tauziehen schließlich beim Bundessozialgericht Erfolg mit seiner Klage (B 14 AS 15/20 R). Die Entschädigung dürfe bei der Berechnung des Arbeitslosengelds II nicht als Einkommen berücksichtigt werden, erklärten die Bundesrichter.

Besondere Leistungen des Staates aufgrund "öffentlich-rechtlicher Vorschriften" würden auf Sozialleistungen nur dann angerechnet, wenn beide Leistungen demselben Zweck dienten. Das treffe hier aber nicht zu. Arbeitslosengeld II sichere den Lebensunterhalt der arbeitslosen Personen. Dagegen sei die Entschädigung ein Ausgleich für die Unannehmlichkeiten eines allzu langen Gerichtsverfahrens.

Strafzettel wegen Falschparkens

Verfahrenskosten darf die kommunale Behörde erst nach einer Anhörung der Kfz-Halterin verlangen

Im März 2021 steckte eine Politesse einen Strafzettel hinter den Scheibenwischer eines Firmenfahrzeugs: Der Fahrer hatte falsch geparkt. Gezahlt wurde das Verwarnungsgeld nicht. Zwei Mal, im April und im Juni, schickte die Kommune der Kfz-Halterin einen so genannten Anhörungsbogen: Die Firma müsse den Namen des Falschparkers angeben, andernfalls werde man ihr die Kosten des Verfahrens auferlegen.

Auf die Schreiben reagierte die Firma nicht. Daraufhin erhielt sie von der Stadt einen Kostenbescheid, gegen den die Kfz-Halterin Klage erhob. Ihr Argument: So ein Kostenbescheid setze laut § 25a Straßenverkehrsgesetz voraus, dass die Verkehrsbehörde den Falschparker trotz "angemessenem Aufwand" nicht ermitteln konnte. Zur Täterermittlung gehöre auch eine Anhörung des Kfz-Halters, die jedoch nicht stattgefunden habe.

Der Einwand sei berechtigt und der Kostenbescheid rechtswidrig, entschied das Amtsgericht Straubing (9 OWi 441/21). Es sei unbillig, der Kfz-Halterin die Verfahrenskosten aufzubrummen, wenn sie keine Chance gehabt habe, den Verkehrssünder rechtzeitig zu benennen. Dass sie diese Möglichkeit nicht hatte, sei jedenfalls nicht auszuschließen, so das Amtsgericht.

Dass die Firma schon vor dem ersten Schreiben der Straßenverkehrsbehörde über die Verwarnung Bescheid wusste, stehe nicht fest. Der Fahrer könne den Strafzettel vergessen oder übersehen haben. Vielleicht habe er auch nicht gewusst, welchen Ansprechpartner in der Firma er informieren sollte. Unternehmensfahrzeuge würden in der Regel von mehreren Personen genutzt. In der Firma sei vielleicht nicht immer bekannt, wer damit unterwegs gewesen sei.

Außerdem habe die Behörde den Anhörungsbogen nicht rechtzeitig geschickt (= innerhalb von zwei Wochen nach der Verwarnung), sondern erst nach drei Wochen. Eventuell könne sich der/die Zuständige in der Firma nach so langer Zeit nicht mehr erinnern, wer gefahren sei. Alles in allem habe sich die Behörde hier bei der Täterermittlung nicht genug bemüht. Vorschnell habe man einen Kostenbescheid erlassen, anstatt die Kfz-Halterin anzuhören und auf Auskunft zu bestehen.

Gefängnisbesuch bei nichtehelicher Lebensgemeinschaft

Eine schematische Regelung nach dem Familienstand kann gegen das Elternrecht verstoßen

Nach einer Entscheidung des Oberlandesgerichts Bamberg sind Besuche bei Strafgefangenen grundsätzlich zuzulassen, soweit dies möglich ist, ohne die Ordnung in der Anstalt zu beeinträchtigen.

Anlass dieser Entscheidung war folgender Sachverhalt: Die Hausordnung eines Gefängnisses sah für verheiratete Gefangene eine monatliche Besuchszeit von vier Mal 45 Minuten vor. Alle anderen Gefangenen durften nur drei Mal 45 Minuten besucht werden. Der Antrag eines unverheirateten Gefangenen auf Bewilligung einer zusätzlichen Besuchseinheit im Monat wurde von der Anstaltsleitung abgelehnt.

Dieser Beschluss verstößt gegen das Grundgesetz, entschied das Oberlandesgericht Bamberg (Ws 632/94). Bei besonderen Fällen dürfe die Anstaltsleitung nicht schematisch vorgehen und sich nur am Familienstand als Kriterium orientieren. Im konkreten Fall lebe der Gefangene in nichtehelicher Lebensgemeinschaft und habe mit seiner Partnerin ein Kind. Auch für Strafgefangene gelte das grundgesetzlich garantierte Elternrecht.

Der Staat müsse die nachteiligen Wirkungen der Gefängnisstrafe auf die Familie möglichst begrenzen. Konkret bedeute das, dass die Anstaltsleitung die Beziehungen des Gefangenen zu seinem Kind fördern müsse. Es sei nicht ersichtlich, warum ein weiterer Besuch im Monat die Ordnung der Anstalt nennenswert beeinträchtigen könnte. Nur dann wäre die Ablehnung gerechtfertigt.

Masken-Attest "von der Stange"

Amtsgericht erspart einem Maskenverweigerer die Strafe für den Gebrauch eines "unrichtigen Gesundheitszeugnisses"

"Wer, um eine Behörde … über seinen … Gesundheitszustand zu täuschen", ein unrichtiges Gesundheitszeugnis benutzt, muss mit Geldstrafe oder Freiheitsstrafe rechnen (§ 279 Strafgesetzbuch). Da immer mehr gefälschte Impfpässe im Umlauf sind, dürfte dieser Straftatbestand vom Gesetzgeber wohl bald ergänzt und erweitert werden.

Im konkreten Fall ging es um ein Attest "vom Fließband", das einen Mann von der Maskenpflicht befreite. Ihm ersparte das Amtsgericht München eine Strafe.

Von Polizeibeamten am Ostbahnhof auf die Maskenpflicht aufmerksam gemacht, hatte der Angestellte erklärt, er könne keinen Mund-Nasen-Schutz tragen, weil er unter Hausausschlägen und Allergien leide, die zu Atemnot führten. Deswegen habe er bei einer Arztpraxis ein Attest per E-Mail bestellt …

Die Praxis warb auf ihrer Webseite damit, solche Atteste seien bei ihr für 17 Euro zu bekommen. Eine ärztliche Untersuchung sei dafür nicht erforderlich. Offenkundig stellte die Arztpraxis ohne jeden Patientenkontakt ca. 4.700 Atteste aus und verschickte sie mit der Post. Davon soll der Arzt selbst — trotz der Internetreklame? — nichts gewusst haben. Angeblich war da eine Assistentin ganz selbständig am Werk.

Das Amtsgericht München zeigte sich verständnisvoll: Der Angestellte habe nicht annehmen müssen, dass sich kein Arzt mit seinen Krankheitssymptomen befasst (824 Cs 234 Js 109736/21). Der vorsätzliche Gebrauch eines falschen Attests sei ihm daher nicht eindeutig nachzuweisen. Um ein selbst ausgefülltes "Blanko-Attest" handle es sich hier jedenfalls nicht: Immerhin habe der Mann der Arztpraxis per E-Mail seine Beschwerden geschildert und ein Attest mit geändertem Wortlaut erhalten.

Die Staatsanwaltschaft fand die Argumentation lebensfremd und legte gegen das Urteil Berufung ein.

Kinderspiel oder Lärmbelästigung?

Die Anwesenheit von Kindern beweist nicht, dass Ruhestörungen nur von ihnen ausgehen

Nachbarn hatten sich immer wieder bei der Vermieterin über die Wohngemeinschaft im Mietshaus beschwert. Sie schilderten, dass in der Wohnung ständig Remmidemmi herrsche: Türenschlagen, Schreien und Poltern, Herumrücken von Möbeln — und das manchmal sogar bis Mitternacht. Eine Mutter mit zwei Kindern und ein Paar lebten in der betreffenden Wohnung in Köln. Schließlich kündigte die Vermieterin der Wohngemeinschaft fristlos wegen permanenter Ruhestörung.

Ihre Räumungsklage scheiterte jedoch zunächst. Was genau in der Wohnung passiert sei, habe die Vermieterin nicht dargelegt, kritisierte das Landgericht Köln. Da aber Kinder in den Räumen wohnten, müsse man zu Gunsten der Mieter von der Annahme ausgehen, dass diese öfter spielten. Kinderlärm sei von den Nachbarn als unvermeidlich hinzunehmen. Die Vermieterin legte gegen das Urteil Revision ein.

Beim Bundesgerichtshof erreichte sie zumindest einen Teilerfolg (VIII ZR 134/20). Das Landgericht hätte nicht einfach von zu akzeptierendem Kinderlärm ausgehen dürfen, beanstandeten die Bundesrichter: Das stehe überhaupt nicht fest.

Die Vermieterin habe ihre Klage ausreichend begründet, indem sie den Lärm genau beschrieben habe (Zeitpunkte, Art, Intensität, Dauer und Häufigkeit). Diese Beschreibung habe sie mit einem detaillierten Lärmprotokoll untermauert, das über eine längere Zeit hinweg angefertigt worden sei.

Das müsse für ein Gericht Grund genug sein, die Nachbarn als Zeugen zu befragen. Die Klage abzuweisen, ohne dem nachzugehen, verletze den Anspruch der Vermieterin auf rechtliches Gehör. Konkreter als mit einer Beschreibung und einem Lärmprotokoll könne sie nicht darstellen, "was genau" in der Wohnung passiert sei — schließlich habe sie in die vermieteten Räume keinen Einblick. Die Vermieterin müsse in der Klagebegründung nicht die konkrete Person des Ruhestörers benennen. Das Landgericht müsse sich mit dem Rechtsstreit noch einmal befassen.

Sinnvolles 100 Jahre altes Gewohnheitsrecht?

Amtsrichter kann Rechtsanwalt zum Tragen der Robe zwingen

Die für Zivilstreitigkeiten zuständigen Richter des Amtsgerichts Braunschweig bestanden nach dem Bezug des neuen Gerichtsgebäudes darauf, dass Rechtsanwälte in Amtstracht zu erscheinen hätten. Dies ist ungewöhnlich, weil das Tragen der Robe sonst nur bei den höheren Gerichten - vom Landgericht aufwärts - obligatorisch ist.

Deswegen beantragten Rechtsanwälte, einen Amtsrichter wegen Befangenheit abzulehnen: Er hatte sie von einer Verhandlung ausgeschlossen, weil sie nicht in Robe erschienen waren. Mit dem Antrag hatten sie jedoch beim Oberlandesgericht (OLG) Braunschweig keinen Erfolg (1 W 12/95). Seit 100 Jahren müssten Anwälte in Robe auftreten und das sei gut so, fand das OLG.

Dabei handle es sich um ein Gewohnheitsrecht, das nach wie vor seinen Sinn habe. Es sei eine alte Erkenntnis, dass die Klarheit der Form die Qualität der Arbeit fördere und den Umgang der Menschen erleichtern könne. Die Richter am Amtsgericht dürften auf der Amtstracht bestehen, auch wenn sie an Amtsgerichten sonst nicht üblich sei. Eine Ablehnung wegen Befangenheit komme nicht in Frage.

Absichtlich bei Rot über die Ampel?

Doppeltes Bußgeld: Wer ca. 10 m vor der Ampel bei Gelb Gas gibt, handelt vorsätzlich

Ein Autofahrer war vom Amtsgericht wegen vorsätzlichen Rotlichtverstoßes zu einer Geldbuße von 200 Euro verurteilt worden. Zwei Polizeibeamte hatten gesehen, wie er vor der Ampelanlage beschleunigte, als die Ampel von grün auf gelb umschaltete. Als die Ampel auf Rotlicht sprang, sei das Auto "ca. 2-3 Fahrzeuglängen" von der Haltelinie entfernt gewesen, berichteten die Polizisten als Zeugen.

Damit stand für das Gericht fest: Der Autofahrer habe schnell vorwärtskommen wollen. Dass er die Haltelinie bei Rot passieren würde, sei ihm egal gewesen. Gegen das Urteil legte der Autofahrer Rechtsbeschwerde ein: Vorsatz wäre nur bewiesen, wenn das Gericht festgestellt hätte, mit welcher Geschwindigkeit er sich der Ampel genähert und wann er bemerkt habe, dass die Ampel auf Gelb umschaltete.

Diese Feststellungen seien überflüssig, erklärte das Kammergericht Berlin (3 Ws (B) 131/21). Das Amtsgericht könne grundsätzlich davon ausgehen, dass Autofahrer die gut sichtbare Ampelanlage im Blick haben und sehen, wenn sie auf Gelb schalte. Der Frage, ob der Fahrer die Lage falsch eingeschätzt habe, müsse das Gericht nur nachgehen, wenn es Anzeichen dafür gebe. Im konkreten Fall habe es nicht klären müssen, ob der Autofahrer vielleicht gedacht habe, er könne die Haltelinie noch passieren, bevor die Ampel auf Rot springe.

Denn eindeutig stehe fest: Statt abzubremsen, habe der Autofahrer bei Gelblicht regelrecht Gas gegeben. Die Polizeibeamten hätten gesehen, wie der Wagen beschleunigte. Die Ampel habe bereits rotes Licht gezeigt, als sich der Wagen zwei bis drei Autolängen vor der Haltelinie befand und weiter beschleunigte. Unabhängig von der Geschwindigkeit stehe damit fest: Der Autofahrer habe das Rotlicht ignoriert oder es zumindest billigend in Kauf genommen (bedingter Vorsatz), bei Rot über die Haltelinie zu fahren. Wer eine rote Ampel vorsätzlich missachte, müsse auch doppeltes Bußgeld "in Kauf nehmen".

Mit dem Wohngeld mehrfach in Rückstand

Kurzartikel

Ist der Eigentümer mit dem Wohngeld für mehrere Wohnungen in Rückstand, darf die Eigentümergemeinschaft der Wohnanlage ihre Ansprüche gegen ihn nicht mit einer Vielzahl von getrennten Prozessen geltend machen. Ohne sachlichen Grund ist so ein Vorgehen rechtsmissbräuchlich und rechtfertigt eine Kürzung der Ansprüche. Ein akzeptabler Grund dafür, wegen jeder Wohnung einzeln zu prozessieren, läge etwa vor, wenn mit unterschiedlichen Einwänden gegen die einzelnen Forderungen zu rechnen wäre.

Landwirt verklagt Notar

Vor 30 Jahren geschlossener Ehevertrag ist sittenwidrig: Er schloss alle Ansprüche der Frau bei einer Scheidung aus

Vor etwa 30 Jahren hatte ein Landwirt mit seiner Verlobten beim Notar einen Ehevertrag geschlossen. Die schwangere Frau sollte sich um Kinder und Haushalt kümmern, eine klassische Hausfrauenehe war geplant. Falls die Ehe scheitern sollte, wollte der Mann gegen alle Ansprüche gewappnet sein — vor allem, "um den landwirtschaftlichen Betrieb zu schützen". Deshalb verzichteten die künftigen Ehepartner für den Fall einer Scheidung gegenseitig auf alle Ansprüche.

Tatsächlich betraf die Vereinbarung natürlich nur die Frau, die ja nicht berufstätig sein sollte. Versorgungsausgleich und der gesetzlich vorgesehene Unterhalt wurden ausgeschlossen. Als sich die Eheleute 2019 trennten, zweifelte die Ehefrau die Wirksamkeit des notariellen Ehevertrags an. Und das für die Scheidung zuständige Amtsgericht teilte ihre Bedenken: Der Ehefrau alle Rechte und den Versorgungsausgleich vorzuenthalten, sei sittenwidrig, fand das Gericht.

Aus diesem Grund zahlte der Landwirt seiner Frau eine Abfindung von 300.000 Euro. Dafür verlangte er vom Notar Schadenersatz wegen falscher Beratung: Wenn ihn der Notar vor der Hochzeit darauf hingewiesen hätte, dass der Ehevertrag möglicherweise unwirksam sei, hätte er seine Verlobte nicht geheiratet und viel Geld gespart, so die Begründung. Beim Landgericht Frankenthal scheiterte die Zahlungsklage des Landwirts (4 O 47/21).

Von falscher Beratung könne hier keine Rede sein, erklärte das Landgericht, vielmehr sei die geltende Rechtslage damals eine andere gewesen. Als der Ehevertrag 1991 geschlossen wurde, sei es eben noch nicht grundsätzlich als sittenwidrig bewertet worden, alle Ansprüche der Ehefrau vertraglich auszuschließen. Notare und Anwälte müssten sich bei ihren Ratschlägen an den Gesetzen und an der Rechtsprechung dazu orientieren.

Durch einige Urteile des Bundesverfassungsgerichts habe sich die Rechtslage etwa ein Jahrzehnt später grundlegend geändert. Auch wenn diese Entwicklung für den Landwirt negative Folgen gehabt habe, müsse der Notar dafür nicht geradestehen. Schließlich habe er im Jahr 1991 nicht alle künftigen Veränderungen in der Rechtsprechung zum Familienrecht voraussehen können.

Räumungsklage: Attest soll Härtefall belegen

Bestreitet der Vermieter die Depression des Mieters, ist ein Sachverständigengutachten einzuholen

Das Landgericht hatte die Räumungsklage des Vermieters abgewiesen, der für die Tochter Eigenbedarf an seiner 85 qm großen Drei-Zimmer-Wohnung in Berlin geltend machte. Der Mieter lebt seit 1986 in der Wohnung und berief sich auf einen Härtefall: Er sei in seiner Umgebung fest verwurzelt und könne einen Ortswechsel nicht verkraften. Ein Psychiater bescheinigte in einem Attest, der alte Herr leide unter einer Depression. Ein Umzug würde aus ärztlicher Sicht die Krankheit unweigerlich verschlimmern.

Das Attest genügte dem Landgericht, um die Räumung als unzumutbare Härte abzulehnen: Sie sei wegen des fortgeschrittenen Alters und der schlechten gesundheitlichen Verfassung des Mieters nicht zu rechtfertigen. Doch die Revision des Vermieters gegen das Urteil hatte beim Bundesgerichtshof Erfolg (VIII ZR 6/19). Das Attest des behandelnden Arztes reiche nicht aus, um die Räumungsklage abzuweisen, so die Bundesrichter.

Das gelte jedenfalls dann, wenn die Gegenseite den Inhalt des Attests bestreite. Und so liege der Fall hier. Der Vermieter habe im Laufe des Rechtsstreits mehrfach ein Sachverständigengutachten zum Gesundheitszustand des Mieters beantragt. Dass das Landgericht die Schilderungen aus dem Attest einfach übernommen habe, sei auch deshalb unverständlich, weil ein Gerichtsgutachter in einem ersten Kündigungsprozess erklärt habe, er finde keine Indizien für eine "klinisch relevante depressive Symptomatik" des Mieters und dafür, dass der Verlust der Wohnung zu Suizid führen könnte.

Der Bundesgerichtshof verwies den Fall an eine andere Kammer des Landgerichts zurück: Sie müsse ein Sachverständigengutachten zu "Art, Umfang und konkreten Auswirkungen der behaupteten Erkrankungen" auf die Lebensführung des Mieters einholen. Geklärt werden müssten die möglichen Konsequenzen im Fall der Räumung, also des erzwungenen Verlustes des vertrauten Umfeldes. So ein Verlust könne sich, je nach körperlicher und psychischer Verfassung des Mieters, unterschiedlich auswirken. Alter und Krankheit allein stellten jedenfalls keinen Härtefall dar, der eine Räumung grundsätzlich ausschließe.

Vermieter ließ Mietwohnung voreilig räumen

Wird das Räumungsurteil von der nächsten Instanz aufgehoben, steht den Mietern Schadenersatz zu

Das Amtsgericht hatte der Räumungsklage des Vermieters stattgegeben. Da die Mieter gegen das Urteil Berufung einlegten, war es noch nicht rechtskräftig. Trotzdem setzte der Vermieter per Zwangsvollstreckung durch, dass die Wohnung geräumt wurde. Die Familie war bereits umgezogen, als das Berufungsgericht die Kündigung für unberechtigt und die Räumung für unzulässig erklärte.

Wahrscheinlich ein eher schwacher Trost für die Mieter, dass ihnen das Landgericht Berlin Schadenersatz zusprach (65 S 4/17). Den Mietern sei durch die voreilige Vollstreckung des Räumungsurteils ein Schaden entstanden, so das Landgericht. Denn sie hätten eine teurere Wohnung neu anmieten müssen.

Vorausgesetzt, die neue Wohnung sei mit der bisherigen Wohnung vergleichbar — nach den Kriterien Ausstattung, Größe, Schnitt, Wohnlage etc. —, stehe den Mietern Schadenersatz in Höhe der Mietdifferenz zu. Dabei sei der Wohnwert beider Wohnungen nach diesen objektiven Kriterien zu beurteilen. Könnten sich die Parteien darüber nicht einigen, seien die Wohnungen von einem Sachverständigen zu bewerten.

Fazit: Vermieter gehen ein erhebliches Risiko ein, wenn sie ein noch nicht rechtskräftiges Räumungsurteil vollstrecken lassen. Das Urteil kann von der nächsten Instanz aufgehoben oder abgeändert werden. Aus welchen Gründen auch immer ein Vermieter das endgültige Urteil nicht abwarten möchte: Auf jeden Fall muss er dann für eventuelle Schäden haften. Klüger ist es daher, nicht sofort vollendete Tatsachen zu schaffen, sondern die Überprüfung des Urteils durch die Berufungsinstanz abzuwarten.

Beschwipst mit E-Scooter unterwegs

Dem Bundesgerichtshof ging die Freiheitsstrafe für einen notorischen Verkehrssünder zu weit

Keinen Führerschein, aber gerne flott unterwegs — auch und gerade nach feucht-fröhlichen Runden. Auf diese Weise brachte es der Verkehrssünder zu einem beachtlichen Sündenregister. Häufig wurde er angetrunken (mit über 1,1 Promille) auf einem Elektroroller erwischt. Einmal missachtete er die Vorfahrt eines anderen Verkehrsteilnehmers und fuhr nach dem Zusammenstoß ungerührt weiter.

Wegen über 30 Straftaten im Verkehr verurteilte das Landgericht Hechingen den Mann zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und drei Monaten. Zudem verfügte es, dass er den Führerschein die nächsten zwei Jahre nicht zurückbekommen dürfe. Gegen das Urteil wehrte sich der Rollerfahrer und erreichte beim Bundesgerichtshof (BGH) zumindest einen vorläufigen Erfolg (4 StR 366/20). Der BGH hob das Urteil auf und verwies die Sache an die Vorinstanz zurück.

Die Bundesrichter störte vor allem, dass das Landgericht die Vorschriften für Kraftfahrer angewendet hatte. Nicht alle E-Scooter seien als Kraftfahrzeuge einzuordnen. Um einen Rollerfahrer strafrechtlich wegen Trunkenheit im Verkehr und wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis zu belangen, müsse zunächst einmal der benutzte Elektroroller technisch beschrieben und richtig bewertet werden. Für zahlreiche Fahrzeuge (z.B. Mofas oder elektrische Kleinstfahrzeuge) benötige man gar keine Fahrerlaubnis.

Auch die Rechtsprechung zur Fahruntüchtigkeit nach Alkoholkonsum sei für Kraftfahrer entwickelt worden. Ob man den Grenzwert von 1,1 Promille — bei Kraftfahrern Indiz für absolute Fahruntüchtigkeit — so einfach auf die Fahrer von E-Rollern übertragen könne, sei doch eher fraglich. Zudem habe das Landgericht nicht geklärt, ob der Unfall tatsächlich auf den Alkoholkonsum des Mannes zurückzuführen war. Ihn wegen Gefährdung des Straßenverkehrs zu verurteilen, sei auf dieser Basis unmöglich. Die fehlenden Feststellungen müsse das Landgericht nachholen.

Vorsicht am Bankautomaten!

Wer einem Kontoinhaber am Geldautomaten Bargeld wegnimmt, begeht Diebstahl

An Geldautomaten müssen sich die Bankkunden nicht nur vor Datenklau hüten, der Online-Betrügern den Zugriff aufs Konto ermöglicht. Es gibt auch noch "das gute alte Handwerk", wie folgender Fall zeigt. Und das heißt: Straftäter, die den Bankkunden Bargeld direkt am Automaten abnehmen.

Vier Täter gingen so vor: Sie stellten sich neben Bankkunden, die Geld abheben wollten, an den Geldautomaten. Kaum hatten die Kontoinhaber ihre EC-Karte hineingesteckt und die PIN eingegeben, wurden sie von den Tätern abgelenkt oder weggedrängt. Diese gaben dann flugs eine Auszahlungssumme (500 bis 800 Euro) ein und verschwanden mit den Geldscheinen. Einige Male bedrohten die Täter vorher die Bestohlenen, sie sollten sie nur ja nicht verfolgen, sonst werde es ihnen übel ergehen.

Das Landgericht Dortmund verurteilte die Täter zu Gesamtfreiheitsstrafen von zwei Jahren und mehr — wegen räuberischen Diebstahls in Tateinheit mit versuchter Nötigung und/oder Körperverletzung. Gegen die Urteile legten alle Angeklagten Revision zum Bundesgerichtshof ein, allerdings ohne Erfolg (4 StR 338/20).

Ihrer Ansicht nach waren die Strafen zu hoch ausgefallen: Die geschädigten Bankkunden hätten das Geld noch nicht eingesteckt gehabt. Also hätten sie, die Täter, ihnen nichts "weggenommen". Die "Wegnahme" mache aber laut Gesetz einen Diebstahl aus.

Auch Geldscheine im offenen Ausgabefach gehörten dem jeweiligen Kontoinhaber, erklärten die Bundesrichter — so ähnlich wie einem Gemüsehändler auch Waren draußen vor dem Laden gehörten. Er könne über sie verfügen, auch wenn er nicht den ganzen Tag danebenstehe (juristisch: "Gewahrsam" — der Händler übe die Sachherrschaft über die Waren aus). Wer Geld aus dem Ausgabefach eines Automaten nehme, breche damit die Sachherrschaft des betroffenen Bankkunden.

Also handle es sich um eine Wegnahme und damit um Diebstahl. Bargeld, das ein Automat am Ende eines korrekten Abhebevorgangs ausgebe, stehe im Gewahrsam desjenigen, der diesen Vorgang durch Eingabe der Bankkarte und der PIN-Nummer in Gang gesetzt habe. Es werde nur infolge seiner Eingabe und unter Belastung seines Bankkontos freigegeben: Dass im konkreten Fall nicht die Kontoinhaber, sondern die Angeklagten den Auszahlungsbetrag eingaben, ändere daran nichts.

Vor Gericht muss man "persönlich" erscheinen

Wer krankheitsbedingt nicht erscheinen kann, muss ein nachprüfbares Attest vorlegen

Ein Wehrpflichtiger wollte als Kriegsdienstverweigerer anerkannt werden. Da er damit bei der Behörde nicht durchkam, zog er vor das Verwaltungsgericht Hannover. Aber auch hier wurde sein Antrag abgelehnt. Das Urteil griff er mit der Begründung an, man habe ihm das rechtliche Gehör verwehrt: Am Tag vor der Gerichtsverhandlung habe er dem Gericht eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung gefaxt. Daher hätte der Termin verlegt werden müssen.

Das Bundesverwaltungsgericht hatte jedoch am Vorgehen der Richter in Hannover nichts auszusetzen (6 B 32.94). In dem Attest habe man die Diagnose nicht entziffern können. Außerdem fehlten Adresse und Telefonnummer des Arztes. So ein Attest sei keine ausreichende Entschuldigung für das Nicht-Erscheinen vor Gericht. Das Verwaltungsgericht habe es daher zu Recht abgelehnt, den Termin des Wehrpflichtigen zu verlegen. Die Verhandlung ohne den Kläger habe seinen Anspruch auf rechtliches Gehör nicht verletzt.

EuGH bremst Ryanair aus

Die Fluggesellschaft kann nicht per Vertragsklausel international irisches Recht durchsetzen

Dass die irische Billigfluglinie Ryanair im Zweifelsfall auf Verbraucherrechte pfeift, ist nichts Neues. Ein rechtliches Schlupfloch hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) im November 2020 geschlossen: Bei Gerichtsverfahren in der Europäischen Union könne sich die Fluggesellschaft nicht auf die alleinige Zuständigkeit irischer Gerichte berufen — nur, weil sie es in ihren Allgemeinen Beförderungsbedingungen so festlege (C 519/19).

Im konkreten Fall ging es um Ausgleichszahlungen für einen annullierten Flug von Mailand nach Warschau. Einige betroffene Passagiere überließen es der Inkassogesellschaft DelayFix, ihre Rechte auf Ausgleichszahlung - gemäß EU-Fluggastrechteverordnung - gegen die Airline geltend zu machen. DelayFix erhob Klage vor einem polnischen Gericht, doch Ryanair bestritt dessen Zuständigkeit.

Die Fluggesellschaft verwies auf ihre Beförderungsbedingungen, in denen steht, dass über Streitigkeiten zwischen Ryanair und Fluggästen nur irische Gerichte entscheiden dürften. Mit dem Kauf des Flugscheins akzeptierten Fluggäste diese Klausel, daran sei auch DelayFix gebunden. Außerdem könne sich DelayFix nicht auf Verbraucherschutz-Richtlinien der EU berufen, da die Firma kein Verbraucher sei.

Das Warschauer Gericht fragte beim EuGH nach, ob das zutreffe. Die Antwort: Da ursprünglich ein Vertrag zwischen einer Fluggesellschaft und einem Fluggast, also einem Verbraucher, geschlossen worden sei, könne sich DelayFix sehr wohl auf die EU-Verbraucherschutzregeln berufen: Der Beförderungsvertrag und seine Klauseln müssten diesen Bestimmungen entsprechen.

Die Regelung, dass nur irische Gerichte bei Streitigkeiten entscheiden dürften, sei mit den EU-Verbraucherschutzregeln jedoch unvereinbar. Sie werde mit den Kunden nicht im Einzelnen ausgehandelt und bevorzuge einseitig die Airline zum Nachteil der Verbraucher.

Nach EU-Recht seien bei Direktflügen Startorte und Zielorte gleichermaßen als die Orte anzusehen, an denen die vertraglich vereinbarte Dienstleistung (= die Beförderung) erbracht werde. Grundsätzlich könne deshalb ein Passagier, der Rechte geltend machen möchte, den Gerichtsstand wählen: Er/Sie könne am Ort des Abflugs oder am Ort der Ankunft Klage erheben. Dabei sei es gleichgültig, ob Verbraucher selbst klagten oder damit eine Firma beauftragten.

Richter machte es sich zu leicht

Beim Urteil gegen einen Umweltsünder nur den Gesetzestext zu wiederholen, genügt nicht

Ein Amtsrichter verurteilte einen Mann zu Geldbuße, weil er Äste einer geschützten Kiefer abgesägt hatte, die auf sein Grundstück herüberhingen. Sein Urteil begründete der Richter so: Der Umweltsünder habe gegen die örtliche Baumschutzsatzung verstoßen, denn der "Rückschnitt des Baumes (sei) ohne Genehmigung und nicht artgerecht" vorgenommen worden.

Nach einem Beschluss des Oberlandesgerichts Düsseldorf rechtfertigte es diese Begründung nicht, dem Mann eine Geldstrafe aufzuerlegen (5 Ss (OWi) 450/94). Der Amtsrichter habe in seinem Urteilsspruch im wesentlichen nur den Text der örtlichen Baumschutzsatzung wiederholt. Es sei jedoch unzulässig, in einem Urteil nur die Worte des Gesetzestextes zu umschreiben oder mit gleichlautenden Worten oder allgemeinen Redewendungen wiederzugeben. Um jemanden zu verurteilen, müsse das Gericht immer alle Umstände, die die Tat beträfen, genau ausführen und erörtern.

Kind mit Kartoffelwurf verletzt?

Gericht lehnt es ab, gegen die "böse" Nachbarin eine Gewaltschutzanordnung zu erlassen

Eine alltägliche Szene: Im Hof eines Frankfurter Wohnhauses hatte ein achtjähriger Junge mit seinem Freund gespielt. Eine Frau im Nachbarhaus fühlte sich vom Kinderlärm gestört. Nicht ganz alltäglich: Anstatt sich zu beschweren, warf die Frau aus ihrem Fenster im zweiten Stock mit Kartoffeln nach den Kindern. Den Achtjährigen traf eine Kartoffel am Rücken. An einem anderen Tag soll ihn die Nachbarin am Arm festgehalten und gezogen haben.

Gegen die Kartoffelwerferin fuhren die Eltern des Kindes ganz schweres Geschütz auf. Ihr Anwalt beantragte im Namen des Jungen bei Gericht, der Frau jede Form der Annäherung und Kontaktaufnahme zu verbieten. Denn der Achtjährige habe wegen dieser Attacken geweint und könne nun aus Angst nachts nicht mehr schlafen.

Juristisch nennt man das eine Gewaltschutzanordnung. Dieses Rechtsmittel ist dazu gedacht, die Opfer von Stalking, Körperverletzungen etc. vor weiteren Angriffen zu schützen.

Das Amtsgericht Frankfurt lehnte es ab, im konkreten Fall so eine Anordnung zu erlassen (456 F 5230/20). Wenn die Nachbarin den Jungen mit einer Kartoffel treffe, stelle das keine Körperverletzung dar, erklärte das Amtsgericht. Es sei nicht ersichtlich, dass "bei dem Kind durch den Kartoffelwurf ein von seinen normalen körperlichen Funktionen abweichender Zustand hervorgerufen worden sei".

Auch das behauptete Zerren am Arm sei keine Körperverletzung oder Drohung, die es rechtfertigte, ein Kontaktaufnahmeverbot auszusprechen. Wenn das Kind behaupte, es könne deswegen nicht mehr schlafen, könnte man das zwar eventuell als Folge psychischer Gewalt bewerten. Doch von einem Vorsatz der Nachbarin in dieser Hinsicht sei nicht auszugehen.

Der eingeschlafene Schöffe

Schlummert ein Laienrichter während der Verlesung der Anklage, muss neu verhandelt werden

Wer mag es dem Laienrichter verdenken: Schließlich verlas der Staatsanwalt in der Sitzung vor dem Landgericht Kassel eine Anklage, in der es um 180 (!) Fälle vermuteter Steuerhinterziehung ging. Das war wohl so öde, dass der Schöffe irgendwann gelangweilt weg-döste.

Bei Tatvorwurf Nr. 177 unterbrach ein Verteidiger den Staatsanwalt und bat den Vorsitzenden Richter zu prüfen, ob der Schöffe noch wach sei. Denn der saß mit geschlossenen Augen und leicht geöffnetem Mund zusammengesunken auf der Richterbank.

Der Vorsitzende sprach den Laienrichter an, der eine Weile brauchte, um wieder zu sich zu kommen. Dann verlas der Staatsanwalt die restliche Anklageschrift. Wiederholt wurden die Anklagepunkte nicht, die der Schöffe verschlafen hatte. Dieser Umstand verhalf der Revision des Steuerhinterziehers zum Erfolg, den das Landgericht zu vier Jahren Gefängnis verurteilt hatte.

Schlafe ein Richter ein, während die Anklage vorgetragen werde, müsse diese erneut verlesen werden, urteilte der Bundesgerichtshof (1 StR 616/19). Die Verlesung der Anklageschrift sei ein wesentlicher Teil der Hauptverhandlung. Könne sie ein Schöffe nicht zur Kenntnis nehmen, weil er schlafe, sei das Gericht "nicht ordnungsgemäß besetzt". Und das sei ein zwingender Grund, den Fall neu aufzurollen, betonten die Bundesrichter.

Unter diesen Umständen werde das Urteil aufgehoben — ohne dass noch geprüft werden müsse, ob es überhaupt auf diesem Fehler beruhe. Der Bundesgerichtshof verwies das Steuerverfahren an eine andere Kammer des Landgerichts Kassel zurück. Einmal in Fahrt, rügten die Bundesrichter bei der Gelegenheit auch noch zahlreiche inhaltliche Mängel des Urteils.

OP-Tuch im Patienten gefunden

Wurde das Tuch bei der Voroperation übersehen, kann das ein grober Behandlungsfehler sein

Im September 2017 war Patient K wegen eines Tumors im Dickdarm operiert worden. Eine Nachuntersuchung im Dezember zeigte einen fast unauffälligen Befund. Doch im April 2018 wurde Herr K erneut ins Krankenhaus eingewiesen: Man vermutete einen Darmverschluss. Bei einer Darmspiegelung sichteten die Ärzte ein 25 cm großes, grünes Bauchtuch, das am Folgetag operativ entfernt wurde.

Der Patient forderte vom Krankenhausträger Schadenersatz: Das Tuch könne ja nur bei der Operation im Herbst 2017 vergessen worden sein — ein Behandlungsfehler. Doch nach Ansicht der Klinikleitung hatte sich K das Tuch selbst eingeführt. Dem schloss sich das Landgericht Leipzig an, ohne einen Sachverständigen zu befragen, und wies die Klage ab. Damit habe das Landgericht die Rechte des Patienten verletzt, kritisierte das Oberlandesgericht (OLG) Dresden, und verwies den Fall an die Vorinstanz zurück (4 U 352/20).

Den Sachverhalt aufzuklären, sei in so einem Fall nur mithilfe von Experten möglich. Zumindest der äußere Anschein spreche eindeutig für einen Behandlungsfehler des OP-Personals: Denn das OP-Tuch sei genau in dem Bereich gefunden worden, der im Herbst operiert worden sei. Also sei es wohl bei der Operation übersehen worden, stellte das OLG fest. Es sei dann Sache des Klinikums zu widerlegen, dass ein Behandlungsfehler passiert sei.

Zudem sei die Annahme ziemlich gewagt, der Patient könnte sich das Bauchtuch selbst so weit eingeführt haben. Auf jeden Fall hätte das Landgericht klären müssen, ob das überhaupt möglich sei. Und wieso sollte sich der Patient selbst so drastisch geschädigt haben? Dass er auf diese Weise Schadenersatz herausschlagen wollte, sei eher unwahrscheinlich. Ganz abgesehen von der Tatsache, dass man chirurgische Bauchtücher nicht überall kaufen könne.

Krankenhaus und Ärzte müssten Vorsorge treffen, um bei Operationen keine Fremdkörper zurückzulassen. Im Einzelfall könne es einen groben Behandlungsfehler darstellen, gebotene Vorsichtsmaßnahmen zu unterlassen.

Instrumente und Material wie Bauchtücher müssten vor und nach einer Operation gezählt werden. Dabei seien die einzelnen Gegenstände zu beziffern und die Übereinstimmung der Zahlen (vorher — nachher) extra zu bestätigen. Im konkreten Fall habe das Operationspersonal jedoch nur den Vermerk "Zählkontrolle: ja" notiert. Das bestätige nur pauschal, dass eine Kontrolle stattfand. Damit erfülle ein Krankenhaus nicht seine Dokumentationspflicht.

Richter verlegt Gerichtstermin, um gegen Überlastung zu demonstrieren

Kein Dienstvergehen, da eine kurze Abwesenheit angesichts der Überlastung nicht ins Gewicht fällt

Ein Berliner Amtsrichter verschob Gerichtstermine, um mit Kollegen an einer Demonstration teilnehmen zu können. Bei der Eröffnung eines neuen Gerichtsgebäudes stellten sie sich mit einem Plakat auf, das die Aufschrift trug: "Gegen Chaos und lange Verfahrensdauer an Berliner Familiengerichten".

Der Präsident des Amtsgerichts hielt die Terminverschiebung für unzulässig. Sie führe zu einer zusätzlichen Belastung des ohnehin überbeanspruchten Gerichts. Außerdem sei es mit der auf der Demonstration vertretenen Forderung unvereinbar und damit widersprüchlich, einen Termin zu verlegen. Der Präsident des Amtsgerichtes wollte deshalb disziplinarrechtlich gegen den Richter vorgehen.

Das Kammergericht in Berlin stellte sich aber auf die Seite des Richters (DGH 2/93). Zwar hätten sich Gerichtstermine wegen der Demonstration verzögert. Eine Verzögerung um wenige Stunden sei aber unbedeutend, wenn man bedenke, dass es heutzutage manchmal schon bei einfachen Bußgeldsachen vorkomme, dass ein Verfahren vier Jahre dauere. Von einem schweren Pflichtverstoß, der allein eine Dienstaufsichtsbeschwerde rechtfertige, könne daher nicht die Rede sein.